Am Telefon

Wie die Zeit vergeht. Seit meinem letzten Eintrag ist viel passiert und ich merke, wie Gott einiges in Bewegung setzt. Nach meinem vergangenen Post habe ich eine Mail von Marcel bekommen. Marcel schrieb mir, dass er vor 2 Jahren sein Coming-Out hatte und trotz aller Ängste, Bedenken und Zweifel ein erfülltes Christsein lebt. Das er nach langem Schweigen und Verdrängen endlich zu seinen Gefühlen steht hat ihn nicht zum Atheisten werden lassen – im Gegenteil: er fühlt sich seinem Vater im Himmel näher als je zu vor. Ich schrieb ihm zurück und schnell merkten wir beide, dass wir aus exakt dem gleichen christlichem Kontext kommen. Ziemlich konservativ und mit Homosexualität als absolutem Tabuthema. Noch am gleichem Abend telefonierten wir fast 3 Stunden miteinander und Marcel erzählte mir seine Lebensgeschichte.

Als Vater von 3 Kindern war es nach über 10 Jahren Ehe nicht einfach, sich plötzlich als schwul zu outen. Aber Marcel merkte, dass er eine Entscheidung treffen musste – was er schließlich auch tat. Auch wenn dieser Schritt nicht einfach und viele Tränen mit sich zog, kann Marcel heute sagen, dass es der richtige Weg war. Sein Leben fühlt sich nun richtig und wahrhaftig an. Ich kann und möchte an dieser Stelle nicht die ganze Geschichte von Marcel wiedergeben – vielleicht kann er ja bei Zeit mal einen Gastbeitrag für meinen Blog schreiben. Ich war nach dem Telefonat mit ihm einfach nur froh, das erste Mal mit einer Person gesprochen zu haben, die genauso empfindet wie ich und auch Christ ist.

Es hat sich angefühlt, wie nach endloser Suche in einem Heuhaufen doch die lang ersehnte Stecknadel in den Händen zu halten.

Ich bin nicht allein! Es gibt andere Christen, denen es genauso ergeht wie mir. Dieses Wissen gab mir an jenem Abend eine solche Ruhe, wie ich sie lange nicht mehr gespürt habe. Bis dato hatte ich noch mit keiner Person gesprochen, die mit Überzeugung Homosexualität und Glauben vereinen kann. Marcel tut dies und lebt laut eigner Aussage im Reinen mit Gott. Natürlich habe ich ihn auf die bekannten Bibelstellen angesprochen, die sich, zumindest auf den ersten Blick, deutlich gegen Homosexualität aussprechen. Er hat mir daraufhin das Buch „Streitfall Liebe“ von Valeria Hick Hinck empfohlen. Ich lese es gerade und finde mich in vielen Aussagen der Autorin wieder. Sie geht konkret auf die genannten Bibelstellen ein und hinterfragt kritisch, in welchem Kontext man diese betrachten kann und muss. Es werden ganz neue Sichtweisen aufgezeigt, die ich selbst noch nie so gesehen habe und Antworten auf die vielen Fragen geben, die sich mir schon so lange stellen. Ich lese immer nur ein Kapitel und lege das Buch dann wieder weg um den Inhalt erstmal zu verarbeiten und für mich zu reflektieren. In einem meiner nächsten Beiträge werde ich näher auf das Buch eingehen.

Gestern habe ich mit meinen Eltern telefoniert. Wie mit ihnen abgemacht, sprechen wir nun regelmäßig über meine Gefühlslage und das, was mich beschäftigt. Als ich ihnen von Marcel und seiner Geschichte erzählte, waren sie beide auch erstmal erstaunt und überrascht, dass Gott diesen Kontakt ermöglicht hat. Sie merkten an meinen Ausführungen, wie froh ich war, endlich eine Person gefunden zu haben, die meine Situation genau nachvollziehen kann. Als ich ihnen von dem Buch erzählte, war besonders mein Dad eher kritisch eingestellt. Er meinte, dass ich mich nun nicht von dieser einen Seite einfach überzeugen lassen dürfe und selbst kritisch prüfen müsse, was mein Weg sei. Er betonte nochmals, dass er sich nicht vorstellen kann, dass Gott einen solchen Lebensweg für gut heißen kann. Seiner Meinung nach lassen sich die Bibelstellen nicht einfach zurechtbiegen und so auslegen, dass es eben für einen „passt“. Meine Mum war verunsichert und sagte ganz offen: „Ich weiß auch nicht was richtig ist. Ich bin in der Überzeugung aufgewachsen, dass es falsch ist und habe nie eine andere Sichtweise zugelassen.“ Direkt nach dem Telefonat haben sich meine Eltern das Buch auch bestellt und möchten es nun ebenfalls lesen. Ich bin froh, dass sie bereit sind, sich intensiv mit dem Thema auseinander zusetzen.

Es ist toll zu sehen, wie Gott neue Türen aufmacht und ich mich nun mitten auf meiner Reise befinde. Eine Reise dessen Ausgang ich noch nicht bestimmen kann, wohl aber weiß, dass Jesus mit mir geht.

Meine Mum schrieb mir später in Whats App folgende Nachricht: „Danke, dass du so offen mit uns sprichst. Darüber bin ich sehr froh! So soll und wird es auch immer bleiben. Deine Ma“.

Es gibt 8 Kommentare.

  1. Hi Marc, es freut mich, dass ich dir etwas Mut machen konnte. Und ja, ich kann deine Situation und deine vielen Fragen so gut nachvollziehen. Ich selbst habe schließlich vierzig Jahre dazu gebraucht, um zu verstehen, was mit mir los war – und meine Gefühle zuzulassen. Es war kein mutiger Schritt des Outings, sondern eher ein Nicht-mehr-Schweigen-können. Und auch wenn mein ComingOut mein Leben und das meiner Familie ziemlich auf den Kopf gestellt hat, bin ich doch froh, diesen Schritt gegangen zu sein. Das Leben fühlt sich endlich richtig an, weil es endlich ehrlich geworden ist. Die Worte eines befreundeten Pastors einer benachbarten Kirchengemeinde waren: „Marcel, es ist ok. Du bist ok. Lass es zu.“ Nach dieser Stimme, die das einmal zu mir sagt, hatte ich mich jahrelang gesehnt und es kaum für möglich gehalten. Es tat unendlich gut und befreite meine Seele. Ich konnte endlich durchatmen – nach den vielen Jahren der Einsamkeit, der Verzweiflung und des Haderns mit Gott – ist endlich Frieden eingekehrt.

    Ich wünsche dir den Mut, die Spannung zwischen Glauben und Zweifel, Hoffnung und Ängsten und manchen unbeantworteten Fragen auszuhalten. Das ist Leben und hilft auch, andere in ihrer Lebenssituation zu verstehen und anzunehmen.

    Das mit dem Gastbeitrag mach ich sehr gerne. Gib mir aber ein paar Tage Zeit :-)
    LG, Marcel

    • In reply to Marcel

      Hallo Marcel,
      du hast geschrieben,das dein Coming Out dein Leben und das deiner Familie auf den Kopf gestellt hat. Inwiefern?
      Wie geht deine Familie damit um,besonders deine Frau?

  2. Hey lieber Marc

    schön zu lesen, was so alles passiert in deinem Leben und besonders, dass du telefonisch Kontakt zu jemanden aufnehmen durftest, der womöglich schon ein paar Schritte weiter ist als du, aber einen Schritt zur inneren Befreiung gegangen ist! Es ist gut und wichtig, sich verstanden und bestätigt zu fühlen, Menschen zu finden, die womöglich gleiches erleben oder durchgemacht haben und nun auf einem Weg des Ist-Zustandes gehen (und nicht den des Soll-Zustandes aus Menschensicht), der auch manchmal nicht wirklich einfach ist und ein jeder von uns, der in solch Kreisen wie wir (ich schließe mich da ein) aufgewachsen ist, geht einen harten Weg und jeder hat sein Paket zu tragen. Jeder!!! Dieser Weg ist aber EHRLICH, AUTHENTISCH und HERAUSFORDERND! Und glaube mir, es kommt eine Zeit, da werden auch deine Eltern und die Menschen um dich herum (die deine Sicht, deine Überzeugung, dein SEIN, DEIN LEBEN nocht nicht so teilen wie du dir das wünschst oder vorstellst), sehen, dass du so von Gott gemacht worden bist, dass ER dich genauso gewollt hat, weil ER keine Fehler macht und ein liebender und gerechter Gott ist. Ich gebe dir ausser „Valerias Buch“ mal einen Text an die Hand, der leider nur in Englisch verfassst, aber mir sehr wertvoll ist und es gibt ein paar Leute, die derzeit bemüht sind, ihn sobald ins deutsche zu übersetzen, weil es uns sinnvoll erscheint, dass dieser „A LETTER TO LOUISE“ (google einfach den Namen) weitergegeben und publik gemacht werden sollte. Er hat nicht nur eine Aussage und Message an uns LGBTs, sondern insbesondere an unsere Eltern, Mitchristen und Pastoren oder Ältesten in den Gemeinden/Kirchen. Dort steht vieles drin, was nicht nur die Denkweise über Homosexualität betrifft, sondern wie wir in unserem Leben und unseren Gemeinden mit der Bibel umgehen. Es ist meines Erachtens eine wertvolle und gute Hinführung zu dem, was in der Bibel steht und vor allem, was dort NICHT steht, sondern immer gern hineingelesen und -interpretiert wird. Die evangelikalen Gemeinden haben einen ziemlich besonderen Umgang mit Gottes Wort, leider auch sehr oft im negativen Sinne, weil die Dinge SCHWARZ/WEISS gemalt werden und kein Raum für DAZWISCHEN ist. Ist GOTT schwarz/weiss, hat ER nicht viele Farben gemacht, hat ER nicht Vielfalt und Artenreichtum geschaffen??? Ja, Gott hat den Mann und die Frau geschaffen, so steht es in 1. Mose…aber kommen die vielen schwarzen, weißen, roten und gelben Menschen alle aus dem gleichen Bauch der einen EVA? Hm…das bezweifle ich! Und die Hautfarbe ist nur ein Merkmal unserer Vielfältigkeit in seiner Schöpfung…

    Hast du mal darüber nachgedacht, dass Homosexualität mehr ist als dein sexuelles Empfinden? Es geht nicht darum, ob du dein Schwulsein „auslebst“ (was auch immer das heisst)…es geht um dein „Anderssein“ im Gegensatz zu vielen anderen um dich herum, im Sinne von „Aussergewöhnlichsein“ im guten Sinne. Gott hat dir etwas gegeben, dass viele (insbesondere heterosexuelle Männer) nicht haben: Finde es heraus, was es ist! Es macht dich nicht minderwertig, sondern reich und wertvoll, wenn du es erkennst und entsprechend einsetzen kannst!!! Dann werden auch andere um dich herum feststellen, wer oder was du genau bist…und staunen. Das erlebe ich gerade selbst und mir wird bewusst, dass Gott durch meine Andersartigkeit wirken kann. Er benutzt dich und mich, um Menschen um uns herum aufmerksam zu machen, dass wir nicht in allen Dingen richtig liegen, auch nach 2000 Jahren Bibelstudium nicht. Du brauchst gar nicht in die Welt ausserhalb Deutschlands zu schauen, wo so viel Ungerechtigkeit, Gewalt und Leid herrscht, schau in unsere Gemeinden und Kirchen, wo so viel Zwietracht und Misstrauen und Uneinigkeit vorzufinden ist, dass einem schlecht werden könnte. Wir sind noch nicht fertig…wir sind noch nicht wie Jesus, als ER auf unsere Erde kam, wir wollen es noch werden und machen dabei immer wieder die gleichen Fehler wie damals zu seiner Zeit. Er sprach damals viel zu den Pharisäern, weil sie eigentlich die Aufgabe hatten, das Wort Gottes in angemessener Art und Weise den Menschen zu vermitteln, aber sie waren alles andere als ein Vorbild darin. Sie griffen Jesus immer wieder an für seinen Umgang mit den Ausgestossenen und Verachteten, weil sie diese Menschen als besonders „sündig“ erachteten und sich selbst als „rein und heilig“. Jesus hat mich vor einigen Jahren ebenso angerührt wie Maria Magdalena, Zachäus, Levi oder die Frau am Brunnen von Samaria. Sie waren Aussenseiter, aber offen für seine Liebe und seine Worte. Die anderen nur „verurteilend, hart und unnachgiebig“…erfährst du das heute auch? Frage weiter nach Gott, nach Jesus, ER wird dich nicht verstossen…im Gegenteil!!!

  3. Hallo Marc,
    da hat sich ja viel getan bei dir .Ich freue mich für dich.
    Der HERR wird führen und leiten.Bleibe im Gespräch mit IHM und natürlich mit deinen Eltern.
    Die Gespräche mit Marcel tun dir bestimmt gut.Vielleicht kaufe ich mir irgendwann auch das Buch.

  4. Lieber Marc, ich finde es ganz toll und mutig, was du hier in deinem Blog schreibst. Und es gibt sooooo viele von uns !!! Ich finde mich in so vielem wieder, was du hier schreibst…
    Ich wuchs in einer FEG auf, wo HS absolut nicht vorkam… nicht DENKBAR war…
    Mit 11 Jahren merkte ich, das ich anders war, ich bekam meine Periode, mein Körper entwickelte sich zu einer Frau..was ich als absoluten Verrat empfand. Jungs fand ich uninteressant, ich war kein Mädchen, aber das konnte niemand sehen. Mit zwanzig verliebte ich mich in meine beste Freundin. Das merkte ich aber erst, als ich sie in ihrem einjährigen Chinaaufenthalt besuchte, und sie mich nicht die Bohne so stark vermisst hatte, wie ich sie. Danach fing die Hölle an: In meinem Hauskreis empfahl man eine Dämonenaustreibung. Ich floh, weil ich wußte, das ich sowas psychisch nicht überleben würde. Gemeindelos, weltbildlos,familienlos, freundelos… ich traute mich Gott nicht mehr unter die Augen…Ich bekam eine schwere Depression, stand dreimal suizidal auf einem Hochhaus, bis ich mich traute einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Der rettete mir das Leben, obwohl ich das erste halbe Jahr nur geheult habe,ohne was sagen zu können. Ich vereinbarte mit Gott eine Pause, eine Schweigezeit. Hat 10 Jahre gedauert…irgendwann fing mein Körper an zu beten,tanzend, wortlos…ich malte Kreise, ich legte Blätter,Steine, Beeren zu „Kreisgebeten“…mein Glaube war sprachlos, aber da, und wachsend. Ich ging zu eine Therapeutin, einer Beraterin für spirituelle Krisen…von da an ging es rapide aufwärts, ich machte Exercitien in Klöstern, betete kontemplativ, „nur schweigend vor Gott sitzend,ihn anschauend.“ Da vor Gott merkte ich, das es vor ihm unwichtig ist, welches Geschlecht mein Körper hat. Im Himmel wird es weder Mann noch Frau geben…
    Aus Neugier ging ich in eine Transmännergruppe, weil ich dachte, ich wäre transgender…Aber dort merkte ich,ich bin bigender, und bisexuell. Eine OP würde mir gar nichts bringen.. da würde ich dann auf der anderen Seite vom Pferd fallen….
    Ich gehe mittlerweile in eine Altkatholische Gemeinde, weil ich die katholische Liturgie liebe. Dort sind haufenweise Lesben und Schwule. Meine Eltern sind um die 70 Jahre alt, sie lieben mich, aber das Thema ist für sie unaussprechlich…. Meine Oma( 90 Jahre alt und unter Hitler großgeworden) meinte einmal zu mir:“Mensch, Mädchen, daran muß man sich doch erst mal gewöhnen, das du pervers bist!“…. lach.. mit der Reaktion, kann ich sehr viel besser umgehen, als mit betroffenem Schweigen.
    Ich lebe seit 5 Jahren in einem privatem Gelübde gottgeweiht, und zölibatär. Nicht weil ich eine lesbische Beziehung sündig fände, ich glaube wir sind mehr oder weniger beide Geschlechter, die einen stärker, die anderen weniger stark.. aber ich habe die Erfahrung gemacht, das ich als bigender in einer Beziehung immer zu sehr die eine Hälfte leben würde, und die andere Seite in mir verkümmert und das halte ich nicht aus, dieses 50% Leben.
    Ich vertraue darauf, das ich in ihm die Fülle habe, und das es mir an nichts fehlt…
    Aber das ist meine ganz eigene Entscheidung…und es muß jeder für sich seinen Weg finden…
    Ich finde es ganz toll, das deine Eltern so mit dir mitgehen…da beneide ich dich echt drum…heute gibts auch so viel mehr Infos, Vernetzung und Unterstützung, als in der prä-Computerzeit,wo ich aufwuchs…
    Ich freue mich darauf, weiter von dir zu lesen…

  5. Lieber Marc,
    das Buch „Streitfall Liebe“ habe ich ausgelesen.Es hat meine Augen geöffnet und ich sehe jetzt einiges anders.
    Selber hatte ich ein Dreier Gespräch,in dem es um mich,meinen Glauben,meine sex.Orientierung ging.
    Es wurde auch über ein Coming out geredet,aber kein Zeitplan.
    Ich nehme mir Zeit und möchte auf Gottes reden hören.
    Einen gesegneten Sonntag wünsche ich dir.

  6. @Marc:Das Gespräch war mit meiner Seelsorgerin und einem befreundeten Pastor.

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